Öffentliches Baurecht: Keine Flüchtlingsunterkunft in reinem Wohngebiet!

1. Zu den Grenzen der Befreiungsmöglichkeiten nach § 246 Abs. 12 BauGB.*)
2. Mit der Errichtung und dem Betrieb der geplanten Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber wäre ein Eindringen einer gebietsfremden Nutzung in das vorliegende Wohngebiet verbunden. Die Beeinträchtigung des Gebietserhaltungsanspruchs der Anwohner wird auch nicht durch die nach § 246 Abs. 12 BauGB erteilte Befreiung von der Festsetzung zur Art der baulichen Nutzung unbeachtlich.
3. Anlagen zur öffentlichen Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern sind keine Wohnnutzung, sondern sind als Anlagen für soziale Zwecke einzuordnen.

(VG Hamburg, Beschluss vom 12.02.2016 – 7 E 6816/15)

Zulässig nach Art der baulichen Nutzung sind in reinen Wohngebieten gemäß § 3 Abs. 2 BauNVO regelhaft Wohngebäude sowie Anlagen zur Kinderbetreuung, die den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen. Ausnahmsweise können neben den hier nicht relevanten gewerblichen Anlagen i. S.v. § 3 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO sonstige Anlagen für soziale Zwecke (sowie den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienende Anlagen für kulturelle, gesundheitliche oder sportliche Zwecke) zugelassen werden. Die vorliegend in Rede stehende Einrichtung stellt keine Wohnnutzung dar (hierzu unter a). Sie ist auch nicht als soziale Einrichtung in einem reinen Wohngebiet zulässig (hierzu unter b). Ihre bauplanungsrechtliche Zulässigkeit folgt schließlich nicht aus der nach § 246 Abs. 12 BauGB erteilten Befreiung von den Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung (hierzu unter c).

a) In der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts, der sonstigen Oberverwaltungsgerichte sowie des Verwaltungsgerichts Hamburg ist geklärt, dass Anlagen zur öffentlichen Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in der Form der Erstaufnahmeeinrichtung keine Wohnnutzung darstellen, da es jedenfalls an der Eigengestaltung und Freiwilligkeit des Aufenthalts fehlt. Diese Einrichtungen sind vielmehr – insbesondere in Ansehung der Residenzpflicht nach § 47 AsylG sowie der von der Einrichtung zu gewährleistenden zentralen Vollverpflegung und Versorgung mit sonstigen Sachleistungen – als Anlagen für soziale Zwecke einzuordnen (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.05.2015, 2 Bs 23/15; Urteil vom 10.04.1997, Bf II 72/96, NordÖR 1999, 354; Beschluss vom 17.06.2013, 2 Bs 151/13; VG Hamburg, Beschluss vom 22.01.2015, 9 E 4775/14; Beschluss vom 28.10.2015, 7 E 5333/15; Beschluss vom 06.11.2015, 7 E 5650/15, S. 17; VGH Kassel, Beschluss vom 18.09.2015, 3 B 1518/15, NVwZ 2016, 88; vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 06.10.2015, 3 S 1695/15; VG Köln, Urteil vom 11.01.2012, 23 K 1277/11; so auch BT-Drs. 18/6185, S. 87).

b) Das Vorhaben der Antragsgegnerin ist, wovon bereits die streitgegenständliche Baugenehmigung selbst zutreffend ausgeht, als nicht lediglich kleine Anlage für soziale Zwecke in dem reinen Wohngebiet nicht zulässig.

Für die Anwendbarkeit der Ausnahmemöglichkeit gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO müsste es sich bei einer Anlage für soziale Zwecke in einem reinen Wohngebiet um eine sogenannte kleine, gebietstypische Anlage handeln, die sich in die Zweckbestimmung des Baugebiets fügt (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.05.2015, 2 Bs 23/15; Beschluss vom 28.11.2012, 2 Bs 210/12, NVwZ-RR 2013, 352, 354; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL, Stand: 8/2015, § 3 BauNVO, Rn. 79). Dem liegt zugrunde, dass bei zahlreichen Nutzungsarten, insbesondere der reinen Wohnnutzung, schon der Umfang der Nutzung selbst ein typenbildendes Merkmal ist, weil von der Nutzungsart mit zunehmendem Umfang gebietsunverträgliche Störungen ausgehen. Diese Maßstäblichkeit gilt insbesondere auch für ausnahmsweise zulassungsfähige Nutzungen. Regelhaft erwartet werden in einem reinen Wohngebiet nur die beim privaten Wohnen üblichen bzw. zweckmäßigen, d. h. auch entsprechend dimensionierten Infrastruktureinrichtungen (vgl. VGH Mannheim zu einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber mit 26 Plätzen als Umnutzung eines Bestandsgebäudes, Beschluss vom 06.10.2015, 3 S 1695/15, NVwZ 2015,1781 ff., bzw. VGH Kassel, Beschluss vom 18.09.2015, 3 B 1518/15, NVwZ 2016, 88, 89, zu einer Einrichtung für 25 Personen). Für die Gebietsverträglichkeit geht es um die Frage, ob ein Vorhaben dieser Art aufgrund der typischerweise mit ihm verbundenen Auswirkungen auf die nähere Umgebung generell geeignet ist, das Wohnen in einem reinen Wohngebiet zu stören (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 18.09.2015, 3 B 1518/15. NVwZ 2016, 88). insbesondere nach seinem räumlichen Umfang, der Art und Weise der Nutzung und dem vorhabenbedingten An- und Abfahrtsverkehr (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.05.2015, 2 Bs 23/15). Individuelle Besonderheiten der zu betrachtenden Einrichtung, des Verhaltens der darin untergebrachten Personen oder auch besondere individuelle Fähigkeiten des Betreibers zur Herabsetzung der Störungsintensität einer konkreten Einrichtung sind demgegenüber wegen des eine typisierende Betrachtung erfordernden Maßstabs des Gebietserhaltungsanspruchs nicht in die gerichtliche Prüfung einzubeziehen (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 18.09.2015, 3 B 1518/15, NVwZ 2016, 88). Die Bewertung der Dimensionierung ergibt sich aus dem Vergleich mit der plangemäßen Bebauung, insoweit unter Berücksichtigung der Vorgaben zum Maß der baulichen Nutzung (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 43); in durch geringe Verdichtung geprägten Gebieten können dementsprechend nur solche Anlagen ausnahmsweise zugelassen werden, die der Eigenart des konkreten Gebiets entsprechen (so, unter Bezugnahme auf § 15 Abs. 1 BauNVO als ergänzender rechtlicher Maßstab, Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL, Stand: 8/2015, §3 BauNVO, Rn. 79).

Nach diesem Maßstab kann das Vorhaben nicht als eine in dem reinen Wohngebiet gebietsverträgliche, zulässige „kleine“, die Zweckbestimmung des Baugebiets nicht gefährdende (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.05.2015, 2 Bs 23/15: Beschluss vom 28.11.2012, 2 Bs 210/12. NVwZ- RR 2013, 352. 354; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL, Stand: 8/2015, § 3 BauNVO, Rn. 79) Anlage für soziale Zwecke gewertet werden.

Mit seiner Erstreckung auf insgesamt 24 zumeist große Baukörper (mit insgesamt 238 Einheiten, die für jeweils 4 Personen nutzbar wären) bzw. Teilanlagen (vgl. Lageplan, Vorlage Nr. 7/21), der Ausrichtung auf (derzeit) 252 Nutzer zuzüglich Personal und der Ausdehnung über den gesamten westlichen Planbereich geht das Vorhaben weit über die in dem Bebauungsplan angelegte kleinteilige Wohngebietsausweisung hinaus: Durch den Bebauungsplan Lemsahl-Mellingstedt 19 sollten insbesondere für das städtische Grundstück (Flurstück 420) am Fiersbarg die planungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bau von insgesamt nur 40 bis 45 Wohneinheiten in Form von Einzel, Doppel- und Reihenhäusern sowie in (drei) Stadtvillen (diese mit bis zu 5 Wohneinheiten) geschaffen werden (vgl. Bebauungskonzept, Planbegründung S. 5). Hierfür wurden insgesamt für die bauliche Nutzung nur 17 Baufenster bestimmt und hierbei „die Baugrenzen … baukörperscharf festgesetzt, um die Umsetzung des Bebauungskonzeptes zu gewährleisten“ (S. 24 der Planbegründung). Die Reihenhauszeilen sollten aus je drei Einheiten bestehen (S. 25 der Planbegründung) und die höchstzulässige Zahl der Wohneinheiten in Wohngebäuden wurde „gemäß der im Bebauungskonzept vorgesehenen Gebäudetypen mit einer Wohnung in den Einzel- und Doppelhaustypen sowie in den Hausgruppen und mit 5 Wohnungen für die Stadtvillen festgesetzt“ (S. 25 der Planbegründung).

Im Übrigen ist die Einrichtung bei der gebotenen typisierenden Betrachtung auch ihrer Zweckbestimmung nach in einem reinen Wohngebiet nicht gebietsverträglich (vgl. im Einzelnen Beschluss der Kammer vom 15.12.2015, 7 E 6128/15). Auch in der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts ist – für eine Folgeunterkunft, d. h. für eine Nutzung mit geringerer Belegungsdichte sowie durch Personen mit günstigerer Bleibeperspektive – geklärt, dass eine größere Einrichtung zur öffentlichen Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern bei typisierender Betrachtung als in einem reinen Wohngebiet gebietsunverträglich anzusehen ist (OVG Hamburg, Beschluss vom 28.05.2015, 2 Bs 23/15). Dies muss erst recht für Einrichtungen wie die vorliegend zu betrachtende gelten, denn hierbei soll es sich um eine sogenannte zentrale Erstaufnahmeeinrichtung (ZEA) handeln, welche i. S. v. § 47 AsylG dazu dient, Ausländer unmittelbar nach Stellung ihres Asylauftrags, also unmittelbar nach ihrer Ankunft in Hamburg, für mindestens sechs Wochen, längstens sechs Monate (gemäß Absatz la der Vorschrift Ausländer aus einem sicheren Herkunftsstaat allerdings auch länger), unterzubringen. Gerade solche Einrichtungen sind nach den spezifischen Belegungs- und Nutzungsbedingungen geeignet, typischerweise erhebliche Auswirkungen auf die Wohnruhe eines reinen Wohngebiets zu entfalten.

Mitgeteilt von Rechtsanwalt Justus Kehrl

© 2019 - Weisskopf Rechtsanwälte Partnerschaft mbB